Zerbrechlich werden


Natürlich ist es nicht einfach, sich vom eigenen Material frei zu machen, und es kann schmerzhaft sein; ein Aspekt dabei ist die Unsicherheit. Eigentlich scheint das die experimentellste Ebene zu sein. Wann finden wohl tatsächliche Innovation und wirkliches Experimentieren statt? Wahrscheinlich dann, wenn Leute unsicher sind, wenn sie sich in einer für sie neuen Situation befinden, wenn sie sich nicht ganz sicher sind und ein wenig Angst haben. Dann müssen sie sich einen Ruck geben, sich anstrengen. Menschen sind innovativ, wenn sie sich außerhalb ihrer warmen Scheiße befinden, außerhalb des Gewohnten und Bequemen … Ich weiß nicht genau, was ich will, aber ich weiß genau, was ich nicht will.“ (Gespräch mit Radu Malfatti)


Improvisierte Musik schafft Situationen, in denen sich MusikerInnen gegenseitig anspornen, andere Perspektiven in ihr Spiel zu bringen. Improvisierte Musik ist nicht per se progressiv, fördert aber permanentes Experimentieren. Wenn MusikerInnen sich ihrer Zugänge zu sicher sind, läuft das Experimentieren Gefahr, manieristisch zu werden. Was ich hier untersuchen möchte, sind die Momente, in denen MusikerInnen sicheres Terrain verlassen und sich den verinnerlichten Beurteilungsstrukturen aussetzen, die unsere Wertschätzung von Musik bestimmen. Diese Momente würde ich zerbrechlich nennen.


Im Sommer 2003 hatte ich die Gelegenheit, in Wien zu sein und die politischen Konnotationen improvisierter Musik zu untersuchen. Zwar konnte ich keine direkte Beziehung finden, aber in Gesprächen, bei Konzertbesuchen und beim Spielen mit anderen MusikerInnen wurde mir einiges bewusst, was das Potenzial und die Limitierungen von improvisierter Musik hinsichtlich einer politischen Wirksamkeit innerhalb der Musikproduktion betrifft. In diesen Text eingeflossen sind Gespräche, die ich im Zuge meiner Untersuchungen mit dem Posaunisten Radu Malfatti führte. Malfattis Wurzeln liegen im chaotisch klingenden improvisierten Free Jazz der Siebzigerjahre; gegenwärtig gilt sein Interesse jedoch hauptsächlich dem ultraleisen und reduzierten Spiel. Sein musikalischer Zugang wendet sich gegen die Stagnation, welche ständige Improvisation mit sich bringen kann. In seinem Bemühen, Stillstand zu vermeiden, sucht Malfatti nach jenen Situationen der Unsicherheit, von denen ich oben gesprochen habe – Situationen, die die vorherrschenden Strukturen der Einschätzung von Musik infrage stellen können.


Wie kann man erahnen, was zu erreichen wäre, wenn man nicht weiß, was unterwegs zu finden ist? Den Gefahren des freien Improvisierens offen und empfänglich gegenüberzutreten heißt, sich ungewollten Situationen auszusetzen, welche die Fundamente der eigenen Sicherheit zertrümmern könnten. Als MusikerIn begibst du dich in Situationen, die dich völlig in Anspruch nehmen. Keine Vision dessen, was passieren könnte, vermag genau diesen Moment zu erhellen. Einmal draußen, gibt es kein Zurück, kein Bedauern. Du musst deine Sicherheiten hinterfragen, als Beschränkungen sehen. Du bist wachsam und verängstigt, als ob du dich in einem dunklen Korridor befändest. Nun beginnst du zu erkennen, dass das, was du für Mauern gehalten hast, nur in deiner Vorstellung existiert hat.


Deine Sinne warnen dich vor Gefahr, und sie helfen dir auch, mit ihr umzugehen. Bewege dich vorwärts in Richtung des Unbekannten, hin zu dem, was dein Wissen und deine Art, es einzusetzen, infrage stellt. Fordere dich selbst, treib dich an, im Bewusstsein, dass die anderen MusikerInnen dich antreiben – dabei werden die letzten Überreste von Bequemlichkeit getilgt. Das ist ein Moment der Ungewissheit, der sich einer fixen Definition entzieht; abhängig von all den spezifischen Umständen, die diesen Moment ausmachen. Je aufmerksamer du diese Umstände wahrnimmst, desto besser kannst du mit ihnen (oder gegen sie) arbeiten. Du machst dich von früheren, gewohnten Beschränkungen frei, du schaffst einen einzigartigen sozialen Raum, der nirgendwo anders existieren könnte. Jetzt entwickelst du andere Formen der Zusammenarbeit, wirfst frühere Arten des Herstellens von Beziehungen über Bord.


Etwas passiert hier – aber was? Das ist schwer zu sagen, aber jedenfalls hat es mit Intensität zu tun. Diese Momente sind praktisch nicht in Worte zu fassen; sie lassen sich nicht einordnen und entziehen sich einer einfachen Darstellung.


Wir sind gezwungen, das Material und die sozialen Bedingungen infrage zu stellen, die den improvisierten Moment bestimmen – Strukturen, die für gewöhnlich Improvisation als etabliertes musikalisches Genre bestätigen. Sonst laufen wir Gefahr, „den Moment“ zu fetischisieren, und stellen uns nicht dem, was er impliziert.


Wenn wir über Stillstand und Fortschritt sprechen, gibt es nur ein Instrument, das uns zu erklären hilft, was wir meinen, und das ist Zeit, Geschichte.“ (Gespräch mit Radu Malfatti)


Wenn Radu Malfatti darüber spricht, wie einige MusikerInnen mit musikalischer Orthodoxie gebrochen haben, sieht er sich dabei an, wie sie mit diesen Brüchen umgegangen sind. Manche versuchen, die zerbrechlichen Momente, die sie erlebt haben, zu festigen oder zu wiederholen; andere kehren einfach zur Sicherheit ihrer früheren Praxis zurück. Nur sehr wenige schaffen es, permanent nach Zerbrechlichkeit zu suchen; dies verlangt von MusikerInnen, häufig Brüche mit ihren eigenen Traditionen zu vollziehen. Einfacher ist es hingegen, innerhalb der eigenen Praxis Kohärenz zu entwickeln: Zwischen dem beharrlichen Verfolgen einer bestimmten Untersuchungsrichtung und dem gemütlichen Einrichten in den eigenen Methoden liegt nur ein kleiner Schritt.


Wenn etwas Neues passiert, gefällt das den Leuten nicht. So einfach ist das … Ich kann’s nicht ändern.“ (Gespräch mit Radu Malfatti)


Taucht innerhalb der Dichotomie des Neuen und des Alten im Mainstreamwertesystem etwas anderes, etwas schwer Einzuordnendes auf, ist es nicht leicht, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken.


Mag auch niemand die Wichtigkeit deines Tuns anerkennen, du musst dein Selbstvertrauen bewahren. Es ist schwierig, allein auf etwas hinzuarbeiten, ohne zu wissen, wohin das führt – auf etwas hinzuarbeiten, das deine künstlerische Ausrichtung zerstören könnte, deine künstlerische Position, die du dir so hart erarbeitet hast. Wenn Musik auf eine aggressivere kreative Weise verwendet wird und nicht als Werkzeug zur Erlangung von etwas anderem (Anerkennung, Status et cetera), führt sie natürlich zu Entfremdung. Aber was willst du als ImprovisationsmusikerIn tun? Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinarbeiten, Musik machen, mit der mehr Leute etwas anfangen können?


Improvisierte Musik besitzt das Potenzial, die Kontinuität einer früheren Musikproduktion zu unterbrechen; aber es liegt an den MusikerInnen, sich einen eigenen Weg zu bahnen, einen eigenen Zugang zu erschließen. Neues Terrain des Zulässigen zu erschließen heißt, zerbrechlich zu werden, bis wir die uns einschränkenden Ängste überwunden haben.


Wir sprechen hier nicht davon, die Arbeitsbedingungen einer Mehrheit zu verändern; aber angesichts der Tatsache, dass Kultur, Kreativität und Kommunikation zunehmend Werkzeuge der „Fabrik ohne Mauern“ werden, müssen wir der Art und Weise misstrauisch gegenüberstehen, wie das Kapital kulturelle Praxen ausbeuten kann. Deshalb müssen wir ständig unsere Motive, unseren Modus Operandi und seine Beziehung zu den uns umgebenden Verhältnissen hinterfragen, um die Vereinnahmung durch ein System zu vermeiden, das ideologische Mauern um uns errichtet. Diesen Verhältnissen ablehnend gegenüberzustehen bringt Gefahr und Unsicherheit mit sich. Dieser Gefahr und Unsicherheit zu begegnen bedeutet Hingabe und Überzeugung und etwas von dem, was Benjamin als „destruktiven Charakter“ bezeichnet hat:

Der destruktive Charakter hat das Bewußtsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schief gehen kann. Daher ist der destruktive Charakter die Zuverlässigkeit selbst.

Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. […] Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt.“ (Walter Benjamin, „Der destruktive Charakter“, 1931)


Mattin, Juli 2005, London, urheberrechtlich freigegeben


Übersetzt von Martin Gastl und Markus Schmitt